Von Erfolgsgeheimnissen und Zukunftsvisionen: Unser Geschäftsführer im Interview

Seit 101 Jahren ist die Firma PICARD bereits in der Wälzlagerbranche tätig. 101 Jahre voller Erfolge und Herausforderungen, weltpolitischer und historischer Ereignisse in einer sich rasant entwickelnden Branche. PICARD hat es durch jede dieser Zeiten mit einer großen Portion Ideenreichtum, Fleiß und Durchhaltevermögen geschafft. Unser Geschäftsführer Hans-Martin Reinhardt wirft mit uns einen Blick zurück zu den Anfängen des Familienunternehmens und erklärt, was eine junge Frau auf dem Überseeschiff nach Amerika damit zu tun hat. Der Blick in die Gegenwart verrät, wie wir es geschafft haben, uns zu einem der größten Handelsunternehmen für Wälzlager und Lineartechnik in Europa zu entwickeln und wie PICARD in die (digitale) Zukunft steuert.

 

Hallo Herr Reinhardt, schön, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Können Sie uns etwas zur Gründungsgeschichte der Firma erzählen?  Wieso hat die Familie Picard sich für den Handel mit Wälzlagern entschieden?

Die Gründung im Jahr 1922 habe ich leider – oder zum Glück 😉 – nicht live miterlebt, aber ich kann aus den Erzählungen der Familie Picard wiedergeben, dass damals eine Tante der Familie kaufmännisch aktiv war und in diesem Zusammenhang eine Schiffsreise nach Amerika unternommen hat. Zu dieser Zeit war es äußerst ungewöhnlich, dass Frauen solche weiten Reisen unternahmen – dazu noch allein und aus beruflichen Gründen. Vor Ort kam sie mit verschiedenen Maschinenelementen, unter anderem Wälzlagern, in Berührung. Durch ihr kaufmännisches Vorwissen erkannte sie, dass der Handel mit Wälzlagern auch in Deutschland ein zukunftsträchtiger Markt sein könnte.

Geschichtlich betrachtet ergibt das durchaus Sinn, da es in den 1920er Jahren, den sogenannten „Roaring Twenties“, weltweit einen großen wirtschaftlichen und industriellen Aufschwung gab. Maschinenbauteile waren immer gefragter. Anna Gräf, die besagte Tante von Friedrich Picard, hatte also damals schon einen guten Riecher. Friedrich Picard gefiel die Idee und gründete schließlich die Firma unter Beteiligung seiner Tante und eines weiteren Mitinhabers. Friedrich selbst war im Gründungsjahr 1922 gerade einmal 14 Jahre alt.

Im letzten Jahrhundert gab es Weltkriege, Währungsreformen und Wirtschaftskrisen – all das hat die Firma erfolgreich durchgestanden, auch wenn es sicher nicht immer einfach war. Wie lautet das Erfolgsrezept?

Das waren in der Tat schwierige Zeiten, bei denen längst nicht immer klar war, ob wir sie als Firma durchstehen werden. Im Zweiten Weltkrieg wurden wir komplett ausgebombt, nach dem Krieg war die Produktion und der Handel von Wälzlagern im ganzen Land verboten. Aber Not macht erfinderisch, also handelte die Firma PICARD in dieser Zeit mit Autoteilen und Werkzeugen. Die Familie Picard war schon immer sehr fleißig, zielstrebig und fokussiert auf das, was sie erreichen wollten. Das Wohlergehen der Firma stand immer an erster Stelle. Dafür war es notwendig, auch private Interessen mal hintenanzustellen. Dieser Schaffensdrang bezog sich nicht nur auf ihre Tätigkeit im Vertrieb, sondern auf alle Bereiche: Von der Buchhaltung bis hin zur IT. Der Sohn unseres Gründers, Wolfgang Picard, hat damals in den 1980er Jahren mit einer IBM 36 selbst für die Firma programmiert. Sein Sohn Marc Picard, unser heutiger Inhaber, hat einige Jahre später wiederum ein vollumfängliches Warenwirtschaftssystem entwickelt und programmiert, das genau auf die Bedürfnisse unseres Unternehmens zugeschnitten ist. Was die Familie über Generationen hinweg vereint, ist, dass die Nachkommen sehr früh Verantwortung übernommen haben und übernehmen mussten. Sowohl Friedrich als auch Wolfgang Picard sind leider viel zu früh verstorben. Unser Inhaber Marc Picard hat als Nachfolger schon in jungen Jahren die Geschäfte seines Vaters übernommen und damit den Unternehmensfortbestand gesichert. Ohne eine Leidenschaft für das zu haben, was man tut, funktioniert es nicht. Natürlich muss man auch bereit sein, Risiken einzugehen.

Bei uns hat das schließlich dazu geführt, dass wir komplett organisch und ohne fremde Hilfe wachsen konnten und bis heute völlig autark und ungebunden sind. Ich würde sagen, das ist das Erfolgsrezept der Firma PICARD.

PICARD beliefert exklusiv den technischen Fachhandel – seit wann? Was macht diese Zielgruppe für uns so besonders?

Dazu muss ich ein wenig ausholen: Gestartet ist die kleine Bochumer Firma im Jahr 1922 als „Fischer-Kugellager-Vertrieb“ (FAG). Später waren wir exklusiver Timken-Vertragshändler und bis Ende der 1980er Jahre Steyr-Vertragshändler, was für uns zu dieser Zeit absolut identitätsstiftend war. Dann wurde Steyr jedoch von SKF aufgekauft und unser damaliges Geschäftsmodell brach in sich zusammen. Wir brauchten einen neuen Vertragshersteller oder eine neue Idee.

Also taten wir etwas, das zu dieser Zeit nicht nur unüblich, sondern verpönt war: Wir wurden einer der ersten Multi-Brand Händler, der Ware direkt vom Hersteller an andere Händler verkauft. Durch unsere Vergangenheit als Vertragshändler kannten wir den technischen Fachhandel wie kein Zweiter und wussten, dass es immer mal wieder Schwierigkeiten in der Beschaffung einzelner Produkttypen gibt. Also haben wir uns auf den Zukaufbedarf des technischen Fachhandels spezialisiert. Wir wussten um die Wünsche und Bedürfnisse dieser Zielgruppe. In der heutigen Zeit ist das vielleicht schwer vorstellbar, aber damals haben wir damit großes Aufsehen erregt. Die Firma PICARD war als solche nicht bekannt, da unsere Identität bislang ja immer auf dem jeweiligen Hersteller basierte. Auf deren Seite haben wir uns mit diesem Schritt einige Sympathien verspielt. Es gab einen strengen Vertriebs- und Gebietsschutz, deshalb existierten zu dieser Zeit fast ausschließlich Vertragshändler. Man konnte nicht einfach Wälzlager von verschiedenen Marken verkaufen, das hat dich als Händler unauthentisch gemacht. Wir haben aber die Notwendigkeit eines Bindeglieds zwischen Herstellern und Handel gesehen. Wenn der Hersteller den Bedarf des Fachhandels nicht bedienen konnte, sind wir eingesprungen, um diesen Bedarf zu decken. So ermöglichten wir dem Handel Markentreue.

Später konnten wir dem technischen Fachhandel durch diese Position auch Zugang zu Premiummarken verschaffen, die ihm auf anderem Wege nicht zugänglich waren. Damals war unser Unterfangen hochriskant. Aber letztlich sieht man, dass wir alles richtig gemacht haben und es sich gelohnt hat, den Schritt in die Unabhängigkeit zu wagen. Unser Mut machte sich bezahlt. Auch, als wir als erstes Handelsunternehmen einen Onlineshop für Wälzlager angeboten haben!

Inwiefern unterscheidet sich PICARD mit dem heutigen Geschäftsmodell von den Marktbegleitern?

PICARD versteht sich seit jeher als Handelspartner auf Augenhöhe – früher im Geschäft mit OEMs und auch heute mit unseren Händlerkunden. Als Bindeglied zwischen Hersteller und Handel war und ist unser Ziel nach wie vor, ein gemeinsames Interesse auf allen Seiten zu schaffen. Unser Leistungspaket für den Kunden soll so differenzierbar sein, dass es sich deutlich von anderen Angeboten abhebt.

Dabei bieten wir absolute Zuverlässigkeit, eine pünktliche Lieferung der bestellten Ware und die Wahl zwischen verschiedenen Versanddienstleistern. Wir garantieren, dass unsere Kunden bei uns ausschließlich fabrikneue und markenrechtskonforme Originalware bekommen. Was uns auf dem Markt absolut einzigartig macht, ist der Umfang unserer Bevorratung. Auf über 10.000 qm Lagerfläche bevorraten wir alle Premiummarken wie Schaeffler, Timken, JTEKT, NSK, SKF, NTN und NACHI, die gemeinsam den Zusammenschluss der WBA (Word Bearing Association) bilden. Außerdem bieten wir unseren Kunden hochwertige Alternativmarken an. Wir beschränken uns dabei nicht nur auf die High-Roller, sondern bevorraten auch seltenes Randsortiment und Nischentypen, die sonst gar nicht oder nur schwerlich zu bekommen sind. Damit stellen wir eine lückenlose Verfügbarkeit der Marken im Markt sicher.

In den letzten Jahrzehnten haben wir unser Sortiment um Lineartechnik, Keilriemen, Dichtungen und umfangreiches Zubehör erweitert. So ermöglichen wir dem Handel, den Bedarf ihrer Kunden aus einer Hand zu decken und so Ressourcen zu sparen, die sie wiederum in die Betreuung ihrer Kunden investieren können.

Lassen Sie uns zum Abschluss eine Prognose wagen: Wohin entwickelt sich die Branche in den nächsten Jahren und welche Rolle spielt PICARD dabei?

Wir befinden uns gerade mitten in einer digitalen Disruption, in der sich Kundenerwartungen rasant verändern. Die Generationen Y und Z kommen zunehmend in Entscheiderpositionen und verändern, wie wir Geschäfte machen. Ich bin der Meinung, dass es auf allen Seiten Herausforderungen geben wird: OEMs müssen stetig neue, innovative Technologien entwickeln, um sich weiterhin erfolgreich im Markt positionieren zu können. Für Händler ist es unabdingbar, eine professionelle Onlinepräsenz zu besitzen und in Marketing zu investieren, statt große, regionale Standorte mit viel Lagerfläche zu führen. Große Bevorratungen binden häufig unnötig Ressourcen. Durch den Onlinehandel existieren inzwischen zahlreiche Dropshipping-Möglichkeiten, die die eigene Lagerfläche fast überflüssig machen.

Die Hauptaufgabe des Händlers besteht nach wie vor darin, Markenbekanntheit zu schaffen. Nur hat sich die Art, wie diese Bekanntheit entsteht, in den letzten Jahren grundlegend verändert. Waren es damals noch die regionale Präsenz und der persönliche Austausch, die für den Händler Schlüssel zum Erfolg waren, stehen im digitalen Zeitalter Verfügbarkeit, Preis und die Schnelligkeit der Lieferung an erster Stelle. Doch das ist längst nicht alles. Der Onlinehandel sorgt für eine bisher nie dagewesene Transparenz, dadurch hat sich auch die Konkurrenz vervielfacht. Das führt wiederum dazu, dass ein günstiger Preis und eine schnelle Lieferung für die Kaufentscheidung des Kunden nicht mehr ausreichen.

Die Frage, die sich vielmehr stellt, ist: Welchen Mehrwert kann ich mit meiner Dienstleistung für den Kunden schaffen? Der technische Fachhandel muss sich eine Profilierung suchen. Und nicht zuletzt spielt meiner Meinung nach auch der persönliche Kontakt zum Kunden weiterhin eine wichtige Rolle. Selbst, wenn durch das Internet vieles anonymer geworden ist – Menschen handeln immer noch am liebsten mit Menschen.

Wird es den technischen Handel weiterhin als Bindeglied zwischen Hersteller und Verbraucher benötigen? Aus meiner Sicht wird der Handel in der Wertschöpfungskette von Hersteller zu Verbraucher immer eine signifikante Rolle spielen, nur welche ist noch nicht klar.

Wir möchten als Firma PICARD zukünftig den Wandel im Markt weiterhin proaktiv mitgestalten und das Kräftedreieck zwischen Hersteller, Handel und Verbraucher fördern: Wir sehen die digitale Disruption als Chance, die Hersteller weiter zu stärken und gleichzeitig dem Händler einen Mehrwert für sich und seine Verbraucher zu bieten.

Vielen Dank für das spannende Gespräch, Herr Reinhardt!